Verklärte Nacht (1943 Version), op. 4

Arnold Schönberg
1943
Dauer: 30'

Arnold Schönbergs Streichsextett »Verklärte Nacht« op. 4 zählt zu den formal aufschlussreichsten Werken der letzten Jahre vor dem Zerfall der Tonalität, wie ihn Schönbergs Streichquartett op. 10, die Drei Klavierstücke op. 11 und die George-Lieder op. 15 zwischen 1907 und 1909 später belegen sollten. Noch fußt das Sextett (eine erste Orchesterbearbeitung verfasste Schönberg bereits 1917, 1943 folgte die heute aufgeführte zweite Fassung für Streichorchester) auf den Regeln der Funktionsharmonik, wenngleich deren Infragestellung von Schönbergs Zeitgenossen bereits wahrgenommen (und bekämpft) wurde.

Als Alexander Zemlinsky, der Schönberg einige wenige Monate des Jahres 1895 das Kompositionshandwerk gelehrt hatte und ihm danach künstlerisch und freundschaftlich verbunden blieb (nie aber persönlich den Schritt in die Atonalität nachvollzog, woran die Freundschaft dann um 1915 auch litt), als also Zemlinsky dem Wiener Tonkünstlerverein, in dem er und Schönberg Mitglied waren, das Streichsextett zur Aufführung vorschlug, höhnte man, diese Musik klinge, als habe man über die noch nasse »Tristan«-Partitur gewischt. Die Anekdote verrät viel über den künstlerischen Zwiespalt, in dem sich Zemlinsky und Schönberg zu Beginn des Jahrhunderts befanden. Von seiner Ausbildung am Wiener Konservatorium her war Zemlinsky Brahmsianer; Schönberg folgte dem drei Jahre älteren Freund darin. Johannes Brahms galt ihnen insofern als Vorbild, als er einerseits jener Traditionalist war, als der sich auch Schönberg zeit seines Lebens verstand, andererseits aber Folgerungen aus der Tradition gezogen hatte, die Schönbergs Neuland den Weg ebnen sollten.
Die Rede ist insbesondere von Brahms’ Arbeit mit motivischen Zellen, aus denen er sowohl Melodiestimmen als auch Begleitfiguren baut und damit zweierlei erzielt: die Verabschiedung vom Ornament (idealtypisch ist jede Note thematisch begründet, für bloßen Schmuck bleibt kein Raum) und die Einheitlichkeit von Horizontale und Vertikale (Melodik und Harmonik werden aus denselben Zellen gewonnen) – beides darf als wichtige Voraussetzung für die Zwölftontechnik bezeichnet werden. Zemlinsky und Schönberg bewunderten neben der Brahms’schen Technik aber auch die Wagner’sche Harmonik: Dass durch chromatische Melodieführung dissonante Akkorde entstehen, die indes nicht aufgelöst werden, sondern in neue dissonante Akkorde münden, dass mithin die Funktionsharmonik von selbstständigen Stimmen durchkreuzt wird, musste Schönberg begeistern – und den Wiener Tonkünstlerverein, dem Brahms als Präsident vorgesessen hatte, erschrecken. Schließlich entschloss sich der Wiener Tonkünstlerverein doch zur Uraufführung des Sextettes, die am 18. März 1902 das Rosé-Quartett und zwei Mitglieder der Wiener Philharmoniker übernahmen. Dennoch traten Schönberg und Zemlinsky bald aus dem Verein aus und gründeten 1904 die Vereinigung schaffender Tonkünstler, zu deren Vorsitz sie Gustav Mahler wählten.

Das Sextett begründet seine formale Einzigartigkeit weniger durch seine Einsätzigkeit als durch die Tatsache, dass es sich um eines der ersten programmatischen Kammermusikwerke der Geschichte handelt. Die Form des Werkes orientiert sich an Richard Dehmels fünfteiligem Gedicht »Verklärte Nacht« aus dem 1896 erschienenen Gedichtband »Weib und Welt«. Darin beichtet eine Frau ihrem Mann ein früheres Verhältnis und die daraus hervorgegangene Schwangerschaft. „Doch eine eigne Wärme flimmert | Von dir in mich, von mir in dich“, antwortet der Mann, „die wird das fremde Kind verklären, | Du wirst es mir, von mir gebären“.

Schönberg hat den Gedichten Dehmels eine gleichsam katalytische Wirkung auf seine Musik bescheinigt, als er dem Literaten 1912 schrieb: „Ihre Gedichte haben auf meine musikalische Entwicklung entscheidenden Einfluss ausgeübt. Durch sie war ich zum erstenmal genötigt, einen neuen Ton in der Lyrik zu suchen. Das heißt, ich fand ihn ungesucht, indem ich musikalisch widerspiegelte, was Ihre Verse in mir aufwühlten.“ Allerdings hat der Komponist nicht einfach die Form des Gedichtes musikalisch kopiert, sondern sich von ihr inspirieren lassen. Die 1912 veröffentlichten Äußerungen Anton Weberns, die Form des Satzes sei „frei phantasierend“, es herrsche ein „Überreichtum an Themen und deren Verarbeitung“ und aus einer „ungebundenen Ablösung“ der Themen entstehe eine „freie Architektonik“, wurden bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts als gültig betrachtet. Tatsächlich besteht das Werk aus zwei annähernd gleich großen formalen Blöcken, die um eine kurze Mittelachse angeordnet sind. In Analogie zum Gehalt des Gedichtes ist der erste dramatisch bewegt: ein Sonatensatz mit zwei „Hauptthemen“ und einem „Seitenthema“, mit „Durchführung“ und „Reprise“. Der zweite Teil, von statischer Ruhe, entspricht einem eingeschobenen „Adagio“. Aneinandergeschlossen werden diese beiden Abschnitte durch die Mittelachse, vor allem jedoch durch die freie „Reprise“ am Schluss des Stückes, in der die Hauptthemen der zwei Teile noch einmal aufgegriffen werden. 


Quelle: Wiener Konzerthaus / Christoph Becher/Christian Lackner

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